DIE LINKE hat ein Problem, was auch der SPD verteufelt ähnlich sieht: ihre übergroße Angst vor „Shitstormkampagnen“ mächtiger Medien. In dieser Angststarre, (die einzig Willy Brandt und sein Wahlstabschef Albrecht Müller 1972 mit ihrem Gegenangriff auf Springers BILD erfolgreich durchbrochen hatten; 45,8 Prozent SPD; „Willy-Wahl“), wurde die SPD zu ihrer beklagenswert systemkonformen Amorphität umgeschliffen.

 

Einst war es „Antiamerikanismus“, der wichtige linke Sozialdemokraten ins NATO- Raketenversteherlager ein- und gegen die Friedensbewegung aufbrachte. Dann war es „Antisemitismus“, der auf solche hagelte, die Siedlungspolitik und Staatsterror der israelischen Regierung kritisierten. Getreu dem Vorbild Adenauer, der bereits in den Fünfzigern, nachdem er Globke, Deutsche Bank und andere Auschwitzmordhelfer in höchste Regierungswürden gebracht hatte, nun die DDR als „antisemitisches System“ angiftete.

 

Und nun wird aus „anti-europäisch“ jene Totschlagzeile gebaut, die mit „Querfront“ und „zurück zum Nationalstaat“ Alternativen zum europäischen Währungssystem verteufeln soll. SPIEGEL online titelt gar am 19.9.15 vom „Unsinn der Nationen“ – vielleicht sogar in der Hoffnung, dass mit den Nationen Tariflöhne, Spitzensteuersätze, Sozialstaatsgebote sowie parlamentarische Vorbehalte gegen Kriegseinsätze flachfallen, die es halt nur in Nationalstaaten gibt. Ein Kampf gegen TTIP ohne Nationalstaat, Kirche und Gewerkschaft ist nicht zu gewinnen. Ansonsten Orwell plus Huxley: Schönes neues Weltsystem! Und wer sich dem querstellt, soll von shitstorms der political correctness erstickt werden. Über einen Euroaustritt lauter nachzudenken, als in einem ohnehin von der NSA verwanzten Schlafzimmer, wird so zum feindlichen Akt gegen deutsche Exportinteressen umgemünzt. Mit der TINA-Implikation: die wegfallenden Arbeitsplätze seien durch Binnennachfrage und Conversion nie und nimmer zu kompensieren, weil die Profite unantastbar seien.

 

Nur mit Dialektik kommt man hinter die Finessen des modernen Imperialismus: So, wie die eigentlichen Nationalisten den heiligen deutschen Exportüberschuss in pro- europäische Rhetorik hüllen, vertreibt die im Namen der political correctness verfasste Gentrifizierung von Sprache und Kultur nordeuropäische Krisenopfer aus den öffentlichen Diskursen und treibt sie den Faschisten zu, wo Linke sie zuvor ausgesondert, ausgegrenzt und von oben herab vorschnell als „Dumpfbacken“ abgekanzelt haben. Merkel hat durchaus gerade punktuellen Mut bewiesen, aber wenn Gabriel von „Pack“ redet, sollten wir uns zumindest daran erinnern, wieviel Deklassierte Agenda 2010 und Hartz IV produziert haben. Das Wort „bildungsfern“ ist schlichtweg kulturelle Gentrifizierung.

 

Das Nein der Linken zu sämtlichen Militäreinsätzen, die Massenflucht (z. B. aus Libyen und dem Irak) herbeibombten verstehen viele. Die Profiteure der profitgemachten Klimaverschiebungen kommen auch immer mehr in aller Munde. TTIP wollen auch deutsche Kleinbürger nicht. Nur scharfe Ablehnung der entsprechenden Verträge dieser EU kann Ansprache an Krisenopfer öffnen. Unter Deutschen und Migranten. Zur EU-Kritik hat DIE LINKE doch in ihren Beschlüssen stehen: „Die Währungsunion muss neu ausgerichtet werden, damit sie nicht Spaltungen weiter vertieft, sondern die gravierenden Ungleichheiten überwindet und eine friedliche und fruchtbare Zusammenarbeit in Europa befördert.“ Und weiterhin steht im Europawahlprogramm der Linkspartei: „Eine Lehre aus der aktuellen Krise muss eine Reform der Europäischen Währungsunion (EWU) sein, indem außenwirtschaftliche Gleichgewichte zwischen den Mitgliedern der EWU als Ziel verankert werden und auf Überschuss- und Defizit-Länder entsprechend Druck zur Anpassung gerichtet wird.“ Also: Fragen der Währung können durchaus Umverteilungsfragen ausdrücken.

Es ist zwingende Dialektik, dass eine Linke, die gemeinsames Handeln will, zuvor die höchste Gedankenfreiheit zur „Reform der Währungsunion“ braucht. Denkverbote in Währungsfragen erhöhen auf Dauer nur den Druck im Kessel, aber nicht den demokratischen auf der Straße.

 

Nun besteht auch die Wählerschaft der LINKEN aus einer Masse Menschen, die in Zeiten der Krise auf Heimatmetaphern geborgenen Terrains zurückfassen. Andere, womöglich Gelehrtere, werden medial mit einem bigotten Nationalismusvorwurf angegriffen, weil sie das deutsche Grundgesetz und die deutsche Tarifautonomie über Europäische Verträge stellen. Nach links offene Wähler können weder mit Hans Olaf Henkels Kapitallogik, noch mit Alexander Gaulands Elitebegriffen etwas anfangen. (Obwohl mächtige Medien beiden AfD-Flügeln gerade wieder schöne Demoskopie-Erfolge bescheren.)

 

Aber: Die Wähler können auch mit „Raus aus dem Euro“ genauso wenig anfangen wie mit Treueschwüren zum Euro. Eine LINKE, die den Dialog mit „Bildungsfernen“ (das heißt eigentlich: weniger parteipolitisch Gebildeten) so ausblendet, wie die SPD nach Brandt unter Clement, Gabriel und Hombach, macht sich mitschuldig, an einem Aufstieg der Rechten. Ebenso, wenn sie „Hartz Vierern“ den Mund verbieten möchte, wenn diese von Erlebnissen berichten, wo durch Notstände in öffentlichen Kleiderkammern, bei sozialem Wohnungsbau und anderer Daseinsvorsorge zu wenig für sie UND für Flüchtlinge übrig geblieben war.

 

Ich habe stets, bereits auf SPD-Parteitagen – selbst gegen meine linken Parteioberen – die Verstümmelung des individuellen Rechts auf politisches Asyl im Grundgesetz bekämpft. Und wir Linken mit gerade unserer Geschichte sollten weiterhin das Grundgesetz expansiv verteidigen. Aber auch Frauenrechte, Unschuldsvermutung und Gewaltenteilung gegenüber Deutschen und Migranten!

 

Und gleichzeitig müssen wir im Kopf für die Sorgen der sogenannten kleinen Leute offen bleiben, wo die Herrschenden den „Krieg der kleinen Leute gegeneinander“ billigend in Kauf nehmen, um somit selbst um nichts enteignet zu werden und von ihren großen Kriegen abzulenken. Wir müssen gerade solche Köpfe ansprechen, in denen die Schlacht über „links oder rechts“ im einzelnen Hirn und im einzelnen Gedanken noch nicht entschieden ist. (Ähnlich, wie einst der Prediger Jesse Jackson für Clinton deklassierte Afroamerikaner zurück in die Wählerliste geworben hatte).

 

Das Alltagsbewusstsein der „Unteren“, verängstigt durch dessen innere Widersprüchlichkeiten und Ärgerlichkeiten, auszublenden, wäre für antikapitalistische Demokraten selbstmörderisch. Was wir darum brauchen, ist eine Europapolitik, die realen Ängsten Rechnung trägt, von denen wir im Europa-Wahlprogramm ja schrieben: „Viele Menschen sehen ihre Interessen in der Europäischen Union nicht gewahrt. Für sie wurde die EU von einer Hoffnung zu einer Bedrohung.“ Und Gregor Gysi sagt in unserem jüngsten Fraktionsbeschluss: „Die EU als Ganzes tritt ihren Bevölkerungen immer mehr als undurchschaubar, undemokratisch, zuweilen autoritär und repressiv, unsozial, zutiefst neoliberal und austeritätsfixiert gegenüber.“ Sic!

 

Aber auch ein möglicher Austritt aus dem Euro schafft Ängste. Sonst hätten die gemarterten Griechen nicht mehrheitlich ihren SYRIZA-Verhandlern den Verbleib verordnet – und diese nicht wiedergewählt. Im deutschen Westen kommt da noch die Beutegemeinschaft mancher Gewerkschaftsführer mit den Exportkonzernen hinzu. Und im Osten, wo bereits zwei Währungswechsel (von der Mark der DDR zur DM und zum Euro) Irritationen hinterließen, sind auch wenig Wähler damit zu elektrisieren.

 

Ob bei der gerade beginnenden Völkerwanderung oder beim Euro: auf Ängste „kleiner“ Leute nicht Rücksicht zu nehmen und dies mit der „Unbarmherzigkeit des aufgeklärten Menschen“(Chevalier) abzutun, wäre nicht nur für DIE LINKE tödlich, sondern auch für die Demokratie. Es ist doch in den zwanziger Jahren (in der Auseinandersetzung um den Versailler Vertrag und die Ignoranz einiger Linker gegenüber der Wut und den Ängsten vieler, besonders kleinbürgerlicher Menschen) schon zu katastrophalen Niederlagen der Aufklärung gekommen.

 

Wer jetzt Menschen zu einem pauschalen Glaubenskenntnis zum Euro zwingen möchte (was vielleicht mit rhetorischer Anleihe bei den großen Verlagskonzernen knapp mehrheitlich gelingen mag), würde sich an einer tiefgreifenden Spaltung und möglicherweise auch Zerlegung der europäischen Linken mitschuldig machen. So, wie auch derjenige, der die Linke jetzt zu einem Glaubensbekenntnis zum Euro-Austritt zwänge. Warum? Weil nur Schäubles Verarmungszwang diese EU zerstören kann. Und DIE LINKE? Allenfalls sich selbst.

 

Diether Dehm

Europapolitscher Sprecher Der Linken Bundestagsfraktion
Schatzmeister der Partei der europäischen Linken

 

Siehe auch auf der Debattenseite Neues Deutschland.